Sommerzeit 2016 - Erzbistum Köln - page 20

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Straßenszenerie aus Assisi.
greift. Franz von Assisi stellt sich die Frage nach Gott. Wer ist eigentlich
dieser Gott, an den ich vielleicht glaube, oft aber auch an ihm zweifle,
der mir doch immer irgendwo ein Geheimnis bleibt, das sich nicht
ergründen lässt? Wie finde ich eine Spur in meinem Leben, die mich
hinführt zu diesem Geheimnis, das wir Gott nennen? Franziskus hilft
hierbei der Blick auf die Schöpfung und ihre Geschöpfe. Wenn die
ganze Schöpfung einen gemeinsamen Ursprung hat, den wir Gott nen-
nen, dann sehe ich also Gott selber nicht, der sich im Geheimnis ver-
birgt, ich sehe aber das, was er geschaffen hat, die Schöpfung in ihrer
Schönheit und Vielfalt. Das Sichtbare also wird für Franziskus zur Spur,
die ihn zu Gott hinführt. Wenn ich mich auf diese Spur begebe, dann
führt sie mich hin zum Ursprung, der als Schöpfer hinter allem steht. Es
ist also die Realität, die Wirklichkeit selber, die wunderschöne Natur
seiner umbrischen Heimat, die Franziskus hinführt zu diesem verbor-
genen Geheimnis, zum Schöpfer und Ursprung allen Lebens. Diese Ein-
sicht ist fundamental prägend für die Art und Weise, wie Franziskus
denkt, lebt, glaubt, wie er Gott, Schöpfung,Welt und Mensch sieht und
versteht.Wenn alles von Gott her kommt, dann gibt es nichts mehr, das
bedeutungslos wäre, dann hat alles irgendwie einen Sinn, alles was
geschaffen ist, will zum Menschen sprechen, will zur Spur werden, die
den Menschen den Schöpfer erkennen lässt.
Schwester Mond, Bruder Sonne
Den schönsten Ausdruck findet dieses Denken bei Franziskus in seinem
Sonnengesang. Dieses erste Gedicht in altitalienischer Sprache entsteht
1225 unter denkbar ungünstigen Bedingungen. Geschwächt von
Krankheit, fast erblindet durch ein schweres Augenleiden wird Franzis-
kus bei der Kirche von San Damiano gepflegt. Doch die tiefe innere
Freude lässt ihn einen Lobgesang auf die Schöpfung verfassen. Da er
über der Erde und allen Geschöpfen den gemeinsamen Ursprung, den
Vater-Gott sieht, kann er alles, was geschaffen ist, als Schwestern und
Brüder ansprechen. Alles lebt aus dem gleichen Ursprung, ist miteinan-
der verbunden, eine Sichtweise der ganzheitlichen Geschwisterlichkeit.
Die Nennung der Urelemente Sonne, Mond, Erde, Wasser und Wind
verweist auf die Lebensgrundlagen aller Geschöpfe. Die Mutter Erde
wird als Schwester angesprochen, die die Geschöpfe trägt, erhält und
auch regiert. Das ist bezeichnend für die franziskanische Sicht von
Regierung und Herrschaft, es geht um einen grundlegenden Dienst, der
das Leben aller ermöglicht.
Die Aktualität dieser Gedanken für die heutige Situation der Welt ist
offensichtlich. Was würde es bedeuten, wenn etwa das Wasser wieder
wie bei Franziskus als „kostbare nützliche und reine Schwester aller”
gesehen würde, in einer Zeit, in der man Kriege um das Recht auf
Wasser befürchtet? Aus dieser geschwisterlichen Sicht auf die Schöp-
fung und ihren Ursprung heraus kann Franziskus am Ende sogar den
Tod als Schwester betrachten, die den Menschen durch das Dunkel
hindurch in das Licht der neuen, ewigen Schöpfung bei Gott führt.
Das Fresko zeigt die Szene, in der Franziskus
dem Papst die Ordensregel überreicht.
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